Das Verblassen heidnischer Glaubensvorstellungen bei den Germanen und die Ausbreitung des Christentums
von Dr. Christian Böttger
Das Verblassen heidnischer Glaubensvorstellungen bei den Germanen und die Ausbreitung des Christentums
Oft begegnet man der Auffassung, bei den Vorfahren unseres Volkes sei das Christentum ausschließlich gewaltsam verbreitet worden. Aber war das wirklich so? Oder handelte es sich bei der „Überwindung urgesellschaftlicher Glaubensvorstellungen“ vielleicht sogar um einen gesetzmäßigen Prozeß, wie es marxistische Religionswissenschaftler herausgestellt haben? Eines scheint aber festzustehen: dieser historische Vorgang ist von einem ganzen Komplex unterschiedlicher Faktoren beeinflußt worden. Monokausale Erklärungsversuche werden sich hier immer als untauglich erweisen. Auch bei dieser Entwicklung müssen Faktoren wie Anpassungsfähigkeit, Wechselwirkungen, Rückkopplungen und Selbstorganisation Berücksichtigung finden. Das macht diesen Vorgang so spannend. Schauen wir uns deshalb zunächst das System der Glaubensvorstellungen bei den Germanen etwas näher an.
1. Zur altgermanische Religion
1. 1. Einige allgemeine Bemerkungen
Bei den Germanen, wie auch bei den antiken Völkern, wird die Beziehung zum Transzendenten nicht erst durch einen Kultakt hergestellt, sondern die ganze menschliche Lebenswelt ist geheiligt. Heiliger Boden ist überall, nicht nur auf dem Thingplatz, in heiligen Hainen, oder in einem Tempel, sondern auch auf dem Acker und auf dem Bauernhof. (1)
Obwohl den germanischen Göttern große Ehrfurcht entgegengebracht wurde, können sie keinesfalls als sittliche, tugendhafte Vorbilder für ihre Verehrer betrachtet werden. Sie sind aus demselben Holz geschnitzt wie die Menschen und handeln nicht nach abstrakten moralischen Grundsätzen. Tugendhaftes Verhalten wird nicht durch Jenseitsvorstellungen motiviert, sondern gründet sich auf ein Ehrgefühl, welches die feste Verankerung des Individuums in der Gemeinschaft erzwingt. Durch ein Opfer setzt sich der Mensch in unmittelbare Beziehung zu den göttlichen Mächten. Die Gottheit wird aber keineswegs verpflichtet, dem Opfernden eine Bitte zu gewähren, es ist keinesfalls als eine Art Tauschhandel anzusehen. „Das Opfer öffnet nur den Weg zu einem Wirken der Gottheit“ (2), die aber eine unverkürzte Freiheit behält.
Setzt der Mensch sich in unmittelbare Beziehung zu den Göttern, muß er sich im Klaren sein, daß er eine gefährliche Sphäre betritt. Er kann auch den Zorn der Götter auf sich ziehen, wenn er zu hohe Anforderungen stellt.
Opfer wurden meist in der Nähe markanter Punkte niedergelegt, wie z. B. bei großen Steinen, Bäumen, auch an Quellen, in Flüssen und Mooren, besonders aber auf Hügeln oder Bergen. In der Bedeutung, die den Bergen zukommt, zeigt sich die im ganzen vorchristlichen Europa verbreitete Anschauung, daß jede Erhebung des Bodes eine Kraftstelle der Erde darstellt, „wo sich die unterirdische Mächtigkeit zusammengeballt hat“ (3), und deshalb Anlaß zur kultischen Verehrung gibt.
Eine geschlossene Priesterkaste, wie sie uns z. B. von den Kelten überliefert ist, fehlte bei den Germanen völlig, obwohl die Priester z. T. eine sehr einflußreiche Stellung hatten und größere Autorität als die Stammesoberhäupter und Könige besaßen.
Eine sehr große Rolle im religiösen Leben spielten die Frauen in denen man etwas Heiliges und Prophetisches vermutete. Seherinnen wie die Veleda konnten eine gewaltige Machtfülle erlangen und Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten ausüben.
Die Wahrsagekunst spielte überhaupt eine wichtige Rolle im öffentlichen und persönlichen Leben; geweissagt wurde aus dem Vogelflug, aus dem Verhalten heiliger weißer Pferde und vor allem aus den Runen. (4)
Auch magische Gebräuche waren üblich, obwohl man hier sich stets den Unterschied zwischen Magie und Religion deutlich machen sollte. Dennoch ist die Trennungslinie zwischen Religion und Magie nicht sehr scharf gezogen.
Der Glaube an eine Wiedergeburt war sehr verbreitet. Den Kindern wurde oft der Name von verstorbenen Familienangehörigen gegeben, weil man annahm, sie würden dadurch wiedergeboren. (5)
Ein Dogma, daß man als Grundvoraussetzung des Glaubens annehmen mußte, kannte der Germane nicht. Er kannte nur die uralte Überlieferung und die sich daraus ergebenden sittlichen Verpflichtungen gegenüber Sippe, Stamm oder Gefolgschaft.
1. 2. Wandlungen
Die kultischen und mythologischen Vorstellungen der germanischen Stämme sind keineswegs als eine über die Jahrhunderte hinweg konstante, unveränderliche Erscheinung aufzufassen, sondern sie tragen vielmehr stets der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung, auch wenn sich einzelne Elemente wie z. B. der Fruchtbarkeitskult als relativ stabil erwiesen haben.
Mit den sich verstärkenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen germanischen Stämmen und den Römern, begannen sich noch vor Beginn unserer Zeitrechnung die stammesgesellschaftlichen Verhältnisse allmählich zu zersetzen. Das zeigt sich besonders in dem stärkeren Hervortreten des Gefolgschaftswesens und einer verstärkten Absonderung des Stammesadels.
Diese Veränderung im sozialen Gefüge fand auch eine Widerspiegelung in den Göttervorstellungen. „Es entstand eine Hierarchie von Geistern und Göttern, in der die einen den anderen untergeordnet und dienstbar waren.“ (6) Auch die Festigung besonderer Jenseitsvorstellungen ist in diesem Zusammenhang zu nennen. „Tapfere und gefallene Krieger wurden von den Wallküren in die Palasthalle Odins (Walhall) geleitet, wo sie schmausten, zechten und kämpften.“ (7) Der Wodans- oder Odinskult verdrängte mit dem stärkeren Hervortreten des Gefolgschaftswesens den Kult anderer Götter, die nun auf den 2. Platz rückten, wie z. B. den Kult des Himmelsgottes Tiwaz (Ziu, Thiu, Tyr).
Der Aufstieg Odins (Wodan), der Gott der Edlen, vom ursprünglichen Sturm- und Totendämon zum obersten Himmels-, Toten- und Kriegsgott, trägt der gewachsenen Rolle des Stammesadels innerhalb der Gesellschaft Rechnung.
Odin/Wodan galt als Meister der Kriegslisten und verkörpert eher die magische Seite des Krieges. Er hat eine düstere, dämonische Wesensart und unterscheidet sich darin grundlegend von Thor/Donar.
Thor/Donar, der eigentliche Krieger, der das Kampfgetöse liebt und mit vernichtender Wucht seinen Hammer schwingt, ist ansonsten im Gegensatz zu Odin der echte treuherzige Menschenfreund. Er ist keine königliche Figur wie Odin, sondern der Gott der freien Bauern, der als Ase eher einen wanischen Wesenszug trägt, d. h. er hat einen Anteil an der Fruchtbarkeit der Erde.
Zu den Wanengöttern rechnet man die für Wachstum und Zeugung verantwortlichen Fruchtbarkeitsgötter. Zu ihnen zählen Njörd (Ernte, Fischfang, Jagd), der friedfertige Vegetationsgott Freyr (auch Fricco, Ing, Frodi) als Gott der Fruchtbarkeit und des Erntesegens. Zu ihm gehören phallische Kulte. Als Wanengöttin der sinnlichen Liebe gilt Freyja.
Die Tatsache, daß besonders die friedliche Bauernbevölkerung Anhänger der Wanenreligion war, läßt die Vermutung zu, daß der Mythos vom Krieg zwischen Asen und Wanen eine Polarität in der germanischen Gesellschaft widerspiegelt, und zwar die Polarität zwischen friedlicher Bauernbevölkerung und einer sozial herausgehobenen Gesellschaftsschicht. (8)
Bis zum heutigen Tag hat der Mythos vom Krieg der beiden Göttergeschlechter zu einer Vielzahl von Spekulationen Anlaß gegeben. Einmal wollte man in den Wanen, die nach einem Friedensschluß in die Genossenschaft der Asen aufgenommen wurden, slawische oder finnische Stämme sehen, zum anderen betrachtete man diese Mythe als Reflex historischer Kriege zwischen germanischen Völkern. Wieder andere Forscher verlegten den Ursprung dieser Mythe zurück bis ins Neolithikum. Sie betrachteten die Träger der schnurkeramischen Streitaxtkultur als Anhänger der Asenreligion und die Träger der großsteingrabbauenden Trichterbecherkultur als Anhänger der Wanenreligion. (9) Eine Unterwerfung und Indoeuropäisierung der letztgenannten Gruppe hat – und dafür liefern Sprachforschung und Genanalysen Anhaltspunkte – stattgefunden. In marxistischen Darstellungen spiegelt der Konflikt zwischen Asen und Wanen die nicht ganz konfliktlose Absonderung des Gentiladels zu Beginn unserer Zeitrechnung wider.
Welcher Interpretation man auch immer zuneigen mag – fest steht eines: Gesellschaftliche Ereignisse und Veränderungen schlagen sich in irgendeiner Form auch in den Glaubensvorstellungen nieder und leiten dort ebenfalls Wandlungsprozesse ein.
Im Laufe der weiteren Entwicklung, besonders seit der Völkerwanderungszeit, wurde allmählich den stammesgesellschaftlichen Glaubensvorstellungen der „Boden“ entzogen. Die Stammesreligion ist sehr stark an den Stammesboden gebunden. In Zeiten großer Wanderungen mußten Kulthandlungen, die mit großen Steinen, Bäumen, Quellen, Flüssen und Bodenerhebungen verbunden waren, zwangsläufig ihre Bedeutung verlieren. Der ständige Ortswechsel führte so zu einer Profanisierung des ganzen Lebens, zu einem Glauben an die eigene Kraft und Macht, der den heidnischen Götterhimmel zusammenbrechen ließ. (10) Der Weg war frei für den Vormarsch des Christentums.
2. Die Ausbreitung des Christentums
Die Christianisierung der Germanen verlief in mehreren Etappen.
2. 1. Die gotische Mission
Für das Jahr 376 kann die allgemeine Annahme des arianischen Christentums durch die Goten angenommen werden. Schon 341 war Wulfila (um 311 – 383) zum Bischof der gotischen Christen geweiht worden und hatte mit seiner Missionstätigkeit vor allem bei der einfachen Bevölkerung Erfolg.
Das arianische Christentum geht auf den alexandrinischen Presbyter Arius zurück, der die Identität zwischen Gottvater, Christus und dem hl. Geist leugnete. Er vertrat vielmehr die Auffassung, daß Christus seinem Wesen nach Gott nicht gleicht, sondern als dessen höchstes Geschöpf menschliche Qualitäten habe.
Von den Goten ausgehend gelangte das arianische Christentum auch zu anderen germanischen Stämmen, so zu Wandalen, Langobarden, Burgunden, Herulern und Rugiern. Der Einfluß gotischer Missionstätigkeit reichte bis nach Thüringen. Vom Thüringer König Hermenefred (vor 485 – vor 534) ist bezeugt, daß er arianischer Christ war. (11) Weiter nach Norden vermochte das Christentum damals aber noch nicht zu dringen.
Die größte Leistung des Gotenbischofs Wulfila besteht darin, die Bibel ins Gotische übersetzt zu haben, wofür er ein eigenes Alphabet mit 27 gotischen Buchstaben schuf, 18 oder 19 entnahm er dem griechischen Alphabet, die übrigen dem lateinischen Alphabet und einige den Runenzeichen. (12)
2. 2. Der Übertritt des Frankenkönigs zur Römischen Kirche
Von den Franken wurde der obergermanisch-rätische Limes seit Anfang des 3. Jahrhunderts immer häufiger überrannt. Die Römer versuchten sie als Föderaten im Grenzgebiet anzusiedeln und zur Abwehr neu eindringender Stämme zu verpflichten. Als dann 486 der Frankenkönig Chlodwig (466 – 511) Gallien unterwarf, wurden im Neuansiedlungsprozeß die Blutsbindungen überwunden. Eine Territorialorganisation löste die Sippenordnung ab. Die fränkischen Siedler erhielten Parzellen als Allod, aus denen sich später das Privateigentum entwickelte. Die Adligen erhielten größere Anteile. Der König hatte das ganze eroberte Land als sein Eigentum betrachtet und der Verfügungsgewalt des Things entzogen. Das alles kann als entschiedener Bruch mit den stammesgesellschaftlichen Verhältnissen angesehen werden.
Doch auch auf religiösem Gebiet wurde ein Bruch mit der Stammesgesellschaft vollzogen. Im Jahre 498 erfolgte der Übertritt Chlodwigs zur römischen Kirche. Dieser folgenschwere Übertritt war eine wohlberechnete Maßnahme von großer politischer Tragweite. Dieser Kirche gehörten die meisten Alteinwohner in den eroberten Gebieten an. Auf diese Weise konnte ein vertrauensvolles Verhältnis zur alteingesessenen romanischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten hergestellt werden. Zum anderen war Chlodwig mit der Kirchenorganisation, deren Leitung er seinem Willen unterwarf, eine Institution zur Festigung und Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches in die Hand gegeben. Die Entscheidung für Rom war also ganz im Sinne der beginnenden feudalen Entwicklung. Im Gegensatz zur arianischen Kirche spielten in der römischen Kirche Reichtum und Großgrundbesitz eine erhebliche Rolle. Das arianische Christentum, das gegen Dogma und Besitzstreben der römischen Kirche kämpfte, mußte so gesetzmäßig untergehen. Es entsprach nicht mehr den Erfordernissen der eingeleiteten feudalen Entwicklung.
2. 3. Die iro-schottische Mission
In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts (496/506 und um 536) wurden die heute süddeutschen Gebiete der Alemannen und Bayern in das Frankenreich einbezogen. Die Christianisierung dieser Gebiete erfolgte aber erst am Anfang des 7. Jh. Die Missionierung ging hier gar nicht mal von fränkischen, sondern vorerst von iro-schottischen Mönchen aus, denen der desolate Zustand des Frankenreiches nach dem Tode Chlodwigs 511 zugutekam. Die iro-schottische Kirche war von Rom relativ unabhängig. Zwischen Kelten und Rom hatten sich in Britannien im 5. Jh. die noch heidnischen Angelsachsen geschoben. Diese somit isolierte iro-schottische Kirche war nach dem Abzug der Römer aus der „altbritischen“ (römische Staatsreligion) hervorgegangen und nahm dann eine Eigenentwicklung. Sie tat sich durch Aktivitäten auf geistig-kulturellem Gebiet hervor und setzte die wissenschaftlichen Kenntnisse des 4. und 5. Jh. in ununterbrochener Folge fort. Damit stand sie ganz im Gegensatz zu der langsam verweltlichenden, prunkliebenden römischen Kirche, deren Geistesleben sich in einer kritischen Situation befand. Die iro-schottischen Mönche, die auch z. T. an den Bräuchen ihrer keltischen Heimat festhielten, verstanden noch durch ihre Vorbildwirkung und ihre leidenschaftliche Art das Volk zu begeistern. Die deutsche Geschichtsschreibung des wilhelminischen Zeitalters hat dieser Kirche einen mangelnden Ordnungssinn vorgeworfen. (13) Aber es wird sich hier wohl weniger um einen mangelnden Ordnungssinn, als vielmehr um fehlende Machtstrukturen, um ein Fehlen von gewaltsamen Herrschaftspraktiken gehandelt haben. Der eigentlich fränkische Klerus war – bedingt durch die Thronwirren – in eine Krise geraten. Die Synoden hörten 695 ganz auf. Die iro-schottische Kirche füllte in Süddeutschland einstweilen die entstandene Lücke. Seit dem 8. Jh. galt auf diese Weise auch Thüringen als bekehrt.
Der Umschwung für Rom erfolgte in deutschen Landen durch Bonifazius (673 – 754 n. Chr.), eigentlich Winfrid, ein angelsächsischer Benediktinermönch. In der zweiten Hälfte des 7. Jh. hatte sich bei den Angelsachsen der Katholizismus durchgesetzt. Die frühere deutsche Geschichtsschreibung glorifizierte Bonifazius als den „Apostel der Deutschen“. In Wahrheit jedoch war er nur ein fanatischer religiöser Eiferer, ein Vorkämpfer päpstlicher Allmacht. Bonifazius hatte einen wesentlichen Anteil an der Erneuerung und am Ausbau der Kirche in den später deutschen Gebieten des Frankenreiches. Auf einer erstmalig wieder 742 durchgeführten Synode wurde Bonifazius die Kirchenleitung des austrasischen Teilreiches übertragen. (14) Als Missionar hatte er sich schon Jahre vorher in Friesland, Thüringen und Hessen betätigt, wobei er sich recht zweifelhafter Praktiken bediente. Seine größte „Heldentat“ ist aus Hessen überliefert. Hier fällte er 723 angeblich eigenhändig die damals bei den Chatten heilig geltende Donareiche bei Geismar und glaubte damit eindeutig, die Überlegenheit der christlichen Religion bewiesen zu haben. Weniger Glück mit seinen Bekehrungspraktiken hatte er allerdings in Friesland. Als er 754 einen erneuten Anlauf nahm, Friesland dem christlichen Glauben zu unterwerfen, erschlugen ihn kurzerhand die um ihre Freiheit und Selbständigkeit bangenden Friesen. Und dies ist auch nicht verwunderlich. Denn, wer den Göttern abschwor und sich taufen ließ, bekannte sich nicht nur zur Staatsreligion eines nach ständiger Expansion strebenden Staates, sondern der war auch bereit eine Haltung anzunehmen, die vermutlich von den Friesen als „Knechtsgesinnung“ wahrgenommen wurde und eine entsprechende Demutsideologie beinhaltete.
2. 4. Die gewaltsame Missionierung der Sachsen
Am längsten setzten sich die Sachsen allen Versuchen einer politischen und religiösen Unterwerfung zur Wehr. Da eine friedliche Bekehrung hier keine Früchte trug, wurde der gewaltsame Weg beschritten. Im Jahre 772 zog Karl d. Große gegen sie ins Feld, ließ Massentaufen anordnen und zerstörte die Irminsul, eine Säule des Himmelsgottes Irmin oder die Darstellung der Himmelsachse, die den Sachsen als Heiligtum galt.
In Widukind fanden die zum Volkskrieg angetretenen Sachsen ihren Herzog und Volkshelden. Im Jahre 785 mußte dieser allerdings die Sinnlosigkeit des Kampfes einsehen und wurde Christ. (15) Karl der Große erließ ein Gesetz für die Sachsen, das die Unterordnung unter Kirche und Krone erzwingen sollte. Jedem drohte die Todesstrafe, der die Taufe verschmähte, wer an alten Sitten und Gebräuchen festhielt, Tote verbrannte, die Fastenzeit nicht einhielt oder ein neugeborenes Kind nicht taufen ließ. Daß diese Gesetze nicht nur auf dem Papier standen, beweist die Hinrichtung von 4.500 Aufständischen an nur einem Tag. Der letzte Widerstand wurde erst 804 endgültig gebrochen. Die Sachsen wurden aus allen Gebieten nördlich der Elbe nach Franken zwangsumgesiedelt und das Land den Obotriten übergeben. Somit waren nun alle deutschen Stämme unter die Herrschaft des Kreuzes gebracht.
3. Christliche Glaubensinhalte in heidnischen Formen
Manchmal knüpften die Missionare auch bei der Vermittlung von bestimmten christlichen Stoffen an die Vorstellungswelt der Germanen an. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür ist eine fast 6.000 Verse umfassende Stabreimdichtung, der Heliand.Sie entstand nach dem Tode Karls d. Großen auf Geheiß Ludwig d. Frommen, der sich, und das sei hier nur nebenbei bemerkt, dadurch hervortat, daß er die zuvor gesammelte und schriftlich fixierte germanischen Sagen und Heldenlieder verbrennen ließ.
Der Heliand, der das Leben und Wirken Christi so undogmatisch wie möglich schildert, sollte der Christianisierung besonders der nördlichen Gebiete dienen, die sich erneut zum Aufstand gegen die herrschende Klasse rüsteten (841 Stellinga-Aufstand). „Christus wird dargestellt als Gefolgsherr, als der Volkskönig, der Beschützer des Landes und des Volkes; seine Jünger erscheinen als eine Gefolgschaft, als wortweise und edelgeborene Helden…, die als das Wichtigste im Leben ihre Treue zu ihrem Herrn ansehen, die für ihn sterben wollen“ (16). Die Bergpredigt wird in einer Breite von etwa 700 Versen auf einem Volksthing wiedergegeben. „Die einzige kriegerische Handlung – als Petrus des Malchus Ohr abschlägt – wird entgegen dem neutestamentarischen Bericht breit zu einer Kampfschilderung ausgemalt“ (17). Da nun aber von Gefolgschaftstreue keine Rede sein kann, als die Jünger ihren Herrn bei der Gefangennahme verlassen, mußte der Dichter sich etwas einfallen lassen: es sei keine Feigheit gewesen, sondern schon vorher von Wahrsagern verkündet worden.
4. Das Weiterleben heidnischer Glaubensinhalte in christlichem Gewand
Überall da, wo die Einführung des Christentums nicht mit einer feudalen Unterwerfung einher ging, geschah dies beinahe problemlos. So wurde um das Jahr 1000 auf Island das Christentum durch Mehrheitsbeschluß auf dem Althing angenommen. (18) Dieser problemlose Übergang hat zu der Annahme geführt, daß es dem Germanen bei diesem Übertritt weniger um den christlichen Glaubensinhalt als vielmehr um die Kulthandlung ging. Kerzenlicht, Glockenklang und Glockenklingeln, funkelnde Meßgewänder und Weihrauchduft waren neue Erfahrungen, die sicherlich einen tiefen Eindruck hinterließen. Aber bedeutete für die Germanen der Übertritt zum Christentum nur einen Wechsel der kultischen Sitte? Wenn ja, warum? Handelte es sich beim Christentum nicht um eine Religion, die den Menschen völlig umwälzen sollte? Bei der Beantwortung dieser Frage möchte ich auf den anthroposophischen Historiker und Volkskundler Werner Georg Haverbeck (1909 – 1999) verweisen. Nach seiner Auffassung sind auch im Christentum die alten Urbilder des europäischen Urglaubens enthalten, z. B. Tod und Auferstehung (Baldurs Tod und Wiederkehr). Diese Tatsache mag den Übertritt zum Christentum erleichtert haben.
Doch nicht nur die alten Urbilder kann man im Christentum wiederfinden. Die Missionare haben oft auch vorsätzlich (also ganz bewußt) an heidnische Elemente und Vorstellungen angeknüpft. Daniel von Winchester, er war dort Bischof von 705 bis 744, warnte seinen Freund Bonifazius brieflich vor dem Versuch, alles Heidnische rücksichtslos zu vernichten, weil es zu tief im Volke verwurzelt sei. Er riet vielmehr dazu, das Christliche daran anzufügen. Auf diese Weise wurden heidnische Opfermahle in christliche Freudenmahle umgewandelt. Für diese von der Kirche geduldete und geförderte Praxis gibt es zahlreiche Belege. So wurden alte heidnische Zaubersprüche, wie z. B. der Wiener Hundesegen, der Lorscher Bienensegen und die Blutsegen vom Christentum übernommen und ins christliche verkehrt. Statt der heidnischen Götter, wurden in die Texte Christus und Petrus oder Christus und Maria eingesetzt. (19) Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurden solche Zaubersprüche im christlichen Gewand im Volke weitergegeben.
Einen Übergang zu einem allgemeineren Synkretismus bildet das formale Weiterleben heidnischer Glaubensinhalte unter christlichem Vorzeichen z. B. im sog. „Questenfest“. (20) Es wird seit alters her am Pfingstmontag in dem kleinen Ort Questenberg am Südrand des Harzes begangen – heute natürlich als „Brauch ohne Glaube“. An diesem Tag treffen sich hier die Bewohner schon bei Sonnenaufgang, um einen mit Reisig geschmückten Kranz von einem 10 Meter hohen Baumstamm herunterzuholen und zu verbrennen. Am Nachmittag wird dann der Kranz mit neuem Birken- und Buchengrün befestigt. Ein Sonnenkult wird als Ursprung des Festes vermutet, was aufgrund der frühen Tageszeit der Bauchhandlung, zum Sonnenaufgang, naheliegend wäre. Die neuerlich entfachte Diskussion über den germanischen oder slawischen Ursprung des Festes (21) ist eigentlich überflüssig, da Sonnenkulte ihre Wurzeln in der Bronzezeit haben. Wandernde Völker – hier in dem Falle die Slawen – verlieren meist ihre Bräuche und übernehmen die Flurnamen und Kulte der Vorbevölkerung, die niemals gänzlich verschwindet. So ist speziell im Wendland, auf das sich die Slawenthese mit den festgestellten Parallelen bezieht, ein größeres germanisches Restsiedlungsgebiet archäologisch nachweisbar. (22)
Heute stehen selbstverständlich bei diesem Brauch weniger Glaubensvorstellungen und ihre Herkunft, sondern vielmehr seine soziale Funktion im Vordergrund. Bräuche gewähren dem Individuum Identität durch aktives Beteiligtsein, durch soziale Interaktion. Der Einzelne findet Bestätigung und Verankerung in einer für ihn als charakteristisch erlebten Gruppenidentität, die ihm die Vorzüge und die menschliche Wärme der damit verbundenen Gruppensolidarität erlebbar macht. Die Brauchausübung vermittelte das Gefühl der Geborgenheit und die Gewähr, zur Gemeinschaft zu gehören. (23)
5. Das Verschmelzen heidnischer und christlicher Glaubensvorstellungen
Die Verschmelzung von Elementen verschiedener Kulturen zu einem neuen System nennt man in der Ethnologie „Synkretismus“. (24) Bei näherem Hinschauen ist fast jede Kultur bis zu einem gewissen Grad „synkretistisch“. Die Kombination von Traditionen und Elementen vorchristlicher und christlicher Glaubensvorstellungen sind für uns gut nachvollziehbar vor allem aus Lateinamerika überliefert. Doch auch bei den Germanen waren diese Elemente und Traditionen des vorchristlichen Glaubens durch die Missionierung keineswegs ausgerottet, sondern verschmolzen mit Elementen des neuen Glaubens zu einem eigentümlichen „Synkretismus“. Dieser Synkretismus, der im Volksglauben späterer Zeiten seine Spuren hinterlassen hat, wird zwar selbst in der Volkskunde heute manchmal geleugnet oder lächerlich gemacht, ja als NS-Phantasterei dargestellt. Dennoch können wir in vielen Bräuchen wie die der Sonnenwendfeiern, im Weihnachts- oder Fasnachtsbrauchtum zahlreiche Belege dafür finden. Warum sollte auch das, was für Lateinamerika als gesichert gelten kann, nicht für unsere Heimat ebenfalls zutreffen?
Schlußbetrachtung
Glaubensvorstellungen existieren nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern tragen stets auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung. Schon die kriegerischen Auseinandersetzungen der Germanen mit den Römern haben zu Veränderungen in der Glaubenswelt der Germanen geführt. Sie zeigen sich in einer Vertiefung der Jenseitsvorstellungen und einem stärkeren Hervortreten des Individuums. Den größten zersetzenden Einfluß auf die Glaubenswelt der Germanen hatte die Völkerwanderungszeit, denn die Stammesreligion ist sehr stark an den Stammesboden gebunden. Nur, wo die Verbindung zum Volksboden erhalten blieb, kam es zum Widerstand gegenüber dem Christentum. Die Gründung großer Reiche, in denen mehrere Stämme und Völker zusammengefaßt werden sollten, begünstigte das Vordringen einer Weltreligion wie es das Christentum darstellt. Stämme und Völker ließen sich auf diese Weise ideologisch überwölben. Das Römische Christentum stellte damit nicht nur eine neue Religion dar. Es ging auch einher mit einer neuen Gesellschaftsordnung, dem Feudalismus.......
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